Zum Impressionismus in der französischen Orgelmusik

 

Im Zuge eines Gedankenexperiments wären charakteristische Ausprägungen einiger Parameter abendländischer Musik innerhalb europäischer Regionen so zu lokalisieren: Melodie – Italien; Form – Mitteleuropa; Rhythmus – Osteuropa; Harmonie – Frankreich. Wenn auch generell im 19. Jahrhundert die harmonische Sprache eines Komponisten als individuelles Erkennungsmerkmal gilt, erlangt im Frankreich der zweiten Jahrhunderthälfte die Harmonie eine neue Bedeutung: die der Farbe. Musik ist für Claude Debussy „Klang- und Farbkunst“; angereicherte und chromatisch alterierte Akkorde werden in neuartige Harmoniefolgen eingebunden und konventionelle harmonische Abläufe vermieden, sodaß die Funktionsharmonik aufgehoben wird; die Stimmführung tritt zugunsten von Klangflächen zurück, neuartige Klangfarbenkombinationen werden gefunden; nur einige Merkmale des musikalischen Impressionismus.

Suggeriert der Titel auf den ersten Blick eine Präsentation von Gedanken zum Thema Impressionismus im Bereich französischer Orgelliteratur, so sei auch die Entwicklung von der spätromantischen Epoche zum Impressionismus Thema dieses Programms. In weiterer Folge wäre die Annahme, daß sich Musik des 20. Jahrhunderts auch vom Impressionismus her entwickelt, zu konsiderieren.

 

 

César Franck: Choral N° 1 en mi majeur aus Trois Chorals

 

Im September 1890 beendet César Franck seine letzte Werksammlung Trois Chorals, deren Erstpräsentation wenige Wochen vor seinem Tod wegen mittelbarer Folgen eines Verkehrsunfalls nicht an der Orgel, sondern am Klavier stattfindet. Die Bezeichnung Choral bezieht sich hier weder auf gregorianische Gesänge noch auf protestantische Kirchenlieder; essentieller Inhalt der formal individuell gestalteten Kompositionen sind frei erfundene, Kirchengesängen ähnliche Melodien, mit farbigen Harmonien, chromatischen Modulationen und ausgeprägter Polyphonie verarbeitet.

Das erste Stück der Sammlung exponiert zunächst harmonisch weit modulierende Melodielinien, bevor im charakteristischen Klang des Registers Voix humaine der Choral einsetzt. Nach variierter Wiederkehr der Anfangsmusik mit der Trompette harmonique ist wieder der Choral, von kurzen Einwürfen durchbrochen, zu hören. Aus einer wie improvisiert wirkenden Überleitung geht als Ansatz einer neuerlichen Variation eine weitere Melodie im Trompetenregister hervor, die erwartungsgemäß später mit der Choralmelodie kombiniert wird. Einer Schlußsteigerung folgt – gemäß Francks Erklärung: « Vous verrez, le vrai choral, ce n’est pas le choral ; il se fait au courant du morceau. » – der apotheotische Einsatz des Chorals.

 

Camille Saint-Saëns: N° 1 aus Sept Improvisations

 

Ungeachtet ihres Titels sind Sept Improvisations eine Zusammenstellung von Originalkompositionen des 81-jährigen Camille Saint-Saëns, während längerer Bettlägerigkeit im Dezember 1916 komponiert. Die Werkbenennung dürfte auf unbefangene thematische Erfindung bei formal freier Gestaltung sowie auf unkomplizierte Kompositionsprozesse leicht aus der Feder fließender Musik anspielen.

Anfänglich übereinander geschichtete Klänge als Derivat einer Ganztonleiter lassen nicht erkennen, welche – oder ob überhaupt eine – Tonart vorherrscht; Saint-Saëns verwendet hier das Tonmaterial des Impressionisten Debussy. Zwei zögerliche Ansätze zur Tonalität unterbrechen das Suchen, ehe eine einfach begleitete Melodie erklingt, die sich nach einer Variation zu einem feierlichen Choral steigert, ehe die Anfängsklänge wiederkehren. Bemerkenswert ist die Vermeidung der für den Schluß oft gebrauchten Kadenzformel Dominante – Tonika durch den vorletzten Akkord.

 

Olivier Messiaen: L’Ascension. Quatre méditations symphoniques pour orgue.

 

Ursprünglich im Jahr 1933 als Orchesterwerk komponiert, adaptiert Olivier Messiaen L'Ascension unter Beibehaltung des Untertitels Quatre méditations symphoniques im selben Jahr auf Wunsch seines Verlegers für Orgel, wobei der dritte Satz neu komponiert und betitelt wird.

Messiaens Tonsprache ist weniger revolutionär denn evolutionär; sie ist die Weiterentwicklung des Stils von Debussy, dessen Ganztonleiter er den 1. Modus der Modi mit begrenzten Transpositionsmöglichkeiten nennt. Darunter ist die systematische Erfassung aller distanziellen Oktavteilungen zu verstehen: gleichstufige oder periodisch-alternierende Intervallfolgen innerhalb einer Oktav – übrigens schon von Franz Liszt, Alexander Scriabin und Béla Bartók angewendet.

 

Die vier Sätze, die nicht zufällig in ihrer tonalen Abfolge (E-Dur, F-Dur, Fis-Dur, G-Dur) aufwärts weisen, lauten folgendermaßen:

I Majesté du Christ demandant sa gloire à son Père

Père, l’heure est venue, glorifie ton Fils, afin que ton Fils te glorifie.

(Prière sacerdotale du Christ, évangile selon Saint Jean)

Dieses sehr langsam auszuführende Stück eröffnet die Quatre méditations symphoniques und wird dem Werkuntertitel mit wenigen, immer wiederkehrenden Phrasen durchaus gerecht.

II Alléluias sereins d’une âme qui désire le ciel

Nous vous en supplions, ô Dieu,… faites que nous habitions aux cieux en esprit. (Messe de l’Ascenion) 

Im bezüglich seiner Klangfarben vielfältigsten Satz werden abwechselnd zwei an Arabesken reiche Melodien präsentiert, jedesmal in andere Begleitung eingebettet.

III Transports de joie d’une âme devant la gloire du Christ qui est la sienne

Rendons grâces à Dieu le Père, qui nous a rendus dignes d’avoir part à l’héritage des Saints dans la lumière,…nous a ressuscités et fait asseoir dans les cieux, en Jésus Christ. (Saint Paul, épîtres aux Colossiens et aux Ephésiens)

Freudenausbrüche einer Seele vor der Herrlichkeit Christ werden abwechselnd durch vollgriffige Akkorde, rezitativische Pedalsoli im fff, später übereinander geschichtet, und virtuose Manualpassagen, dargestellt.

IV Prière du Christ montant vers son Père

Père, j’ai manifesté ton nom aux hommes… Voilà que je ne suis plus dans le monde ; mais eux sont dans le monde, et moi je vais à toi. (Prière sacerdotale du Christ, évangile selon Saint Jean)

Auch der ausgeprägte meditative Charakter des letzten Stücks resultiert aus extrem langsam zu nehmendem Tempo und repetitiver Melodik über fast statischen Harmoniefolgen, bis endlich der lange auszuhaltende Schlußakkord in ungewöhnlich hoher Lage erreicht ist.

 

Dr. Elmo Cosentini